Heimat – die Geschichte vom Schulmeister und seinem Sohn
Leseprobe
Herkunft
Schon in alten Zeiten haben Menschen ihre Erlebnisse der Nachwelt hinterlassen. So mancher Leser kennt gewiss die Aufzeichnungen eines Julius Cäsar oder die Lebensbeschreibung eines Götz von Berlichingen und hat bewundert, wie diese Männer aus großen Nöten und Gefahren unversehrt und ehrenvoll hervorgegangen sind.
Ein solcher Leser wird sicher darüber lachen‚ dass auch ich, Udalrich Gast aus Sommerhausen im Frankenland, mich anschicke, meine Erlebnisse aufzuzeichnen. Denn ein Cäsar bin ich nicht und auch kein Ritter, sondern nur ein armer Schulmeister, der die Jugend fast 50 Jahre lang Tag für Tag in Gottes Wort unterwiesen hat. Zwar hoffe ich, meine saure Arbeit ist nicht vergeblich gewesen, doch zugleich weiß ich, dass nicht der etwas ist, der pflanzt und begießt, sondern nur der, der das Gedeihen schenkt.
Wie tausend andere auch bin ich jahrzehntelang meinen Weg gegangen; dann erst hat Gott mich auf ganz eigene Wege geleitet. Darum will ich zum besseren Verständnis von jenen 59 Jahren ein wenig erzählen.
Mein Vater, Paulus Gast, war Schneider und wohnte in Winterhausen. Meine Mutter habe ich nie kennengelernt, denn bei meiner Geburt holte Gott sie, wie auch meine drei älteren Geschwistern, zu sich. Da ich das einzige Kind meines Vaters war, meinte er, ich sollte es einmal besser haben als er, und bestimmte mich zu einem Schulmeister. Ich habe also Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt, dann Latein bei dem seligen Pfarrer Burkhard Thüngersheim, danach habe ich mich im Unterrichten geübt und bin endlich nach bestandenem Examen von dem Rat in Sommerhausen mit dem Amt eines Schulmeisters betraut worden.
Viele Menschen haben sich mit mir darüber gefreut, zwei aber ganz besonders: Mein alter Vater – und meine Verlobte Margarete, die ich nun endlich heiraten konnte. Auch sie ist heute bei Gott.
Im Jahr 1610, gerade an meinem 37. Geburtstag, zogen wir in Sommerhausen ein, wo die Bürgerschaft uns das Haus und den Garten schön hatte einrichten lassen. Das Städtchen Sommerhausen liegt im Frankenland. Mit Recht führt es eine Sonne in seinem Wappen, die auf eine Weintraube scheint, denn Getreideland liegt zwar wenig in seiner Gemarkung, dafür jedoch viele fruchtbare Weinberge, und es ist ein schöner Anblick, die Häuser und Mauern mit ihren vielen Türmen im Schatten der grünen Weinberge liegen zu sehen. Auch ein Fluss strömt an seinen Mauern vorbei, der Main, der vom Bayreuther Land herunterkommt und hier die Grenze zwischen den beiden Orten Sommerhausen und Winterhausen bildet. Hier bin ich fröhlich und voll guter Hoffnung an mein Tagewerk gegangen; hier habe ich die Last und Hitze des Tages ertragen; und hier will ich auch dahingehen, wenn der Herr des Weinbergs zum Feierabend ruft – wie das biblische Gleichnis sagt.